"Wasser hat ein Gedächtnis. Und das der Flüsse ist besonders gut."
Elif Shafak verbindet in ihrem außergewöhnlichen Roman das Schicksal dreier Menschen miteinander. Sie alle einigt das Wasser mit der chemischen Formel H2O. Arthur verbindet als "O" die Schicksale der beiden Frauen.
Arthur, 1840, am Ufer der Themse.
Arthur wurde zu einer Zeit geboren, als man jeglichen Müll noch im Fluss entsorgte und sich ein widerlicher Geruch über alles legte. Am Ufer der Themse kam er auf die Welt, wuchs in einer heruntergekommenen Gegend auf und besuchte eine Lumpenschule. Doch er konnte sich dank seiner außergewöhnlichen Klugheit, Entdeckerfreude und Beharrlichkeit später seiner Leidenschaft für die Lamassu und der Entzifferung alter Tontafeln aus Mesopotamien hingeben und begibt sich als Erwachsener schließlich auf eine unglaubliche Reise an das Ufer der Tigris, um dort die Bibliothek des Assurbanipal, König des Assyrischen Reiches, freizulegen. Heute können die riesigen Lamassu-Statuen (Schutzdämon mit Stierkörper, Flügeln und menschlichem Kopf), die einst den Palast des Königs Assurbanipal bewachten, im Museen bestaunt werden.
"Die Mesopotamier der Antike sind berühmt für die Erfindung der Schrift, der Mathematik, der Astronomie, der Bodenbewässerung und des Rads, doch ihre größte Entdeckung hat niemand erkannt. Sie haben als Erste den Schmerz erfahren, ein Heimatland zu verlieren." (Zitat S. 532)
Narin, am Ufer der Tigris, 2014.
Die neunjährige Narin gehört zum Volk der Jezidi (Eziden), die immer wieder fälscherweise als "Teufelsanbeter" bezeichnet worden sind, ihre Familie wird aus ihrem Heimatdorf Hasankeyf im Südosten der Türkei vertrieben und so ist das Mädchen mit ihrer Großmutter auf der Reise in den Irak.
Zaleekhah, 2018, am Ufer der Themse.
Zallekhah ist Wissenschaftlerin (Hydrologin) und beschäftigt sich mit dem Wasser. Die Details, mit denen die Handlung gespickt sind, fand ich dabei sehr interessant, z. B. die Erläuterungen zu den "Verlorenen Flüssen". Die Biéve war einst in Fluss der bis zum 19. Jahrhundert eine wichtige Wasserquelle war, dann aber stark verschmutzt wurde und letztlich abdeckt und vergessen worden ist. So bewundern heute Touristen die Seine in Paris, ohne auch nur zu ahmen, dass unterirdisch noch ein weiter Fluss liegt. Oder auch in Tokio, Toronto, Sydney - überall auf der Welt gibt es unterirdische Flüsse.
Die Autorin beschreibt anhand von Narins Familienmitgliedern das Schicksal der Eziden, die durch unbändigen Hass und Terror zum großen Teil ausgelöscht wurden, auf schonungslose und sehr berührende Weise.
Arthur wächst in Hoffnungslosigkeit auf, Hunger, Kälte, Krankheit und doch seine aufrichtige Liebe zu seiner Mutter und dem Drang ihr und den jüngeren Geschwistern zu helfen, lässt ihn weitermachen, so dass er eines Tages eine bessere Stellung erhält und so zumindest etwas Geld nach Hause bringen kann.
Zaleekhah ist nach der Trennung von ihrem Mann auf ein Hausboot gezogen. Aufgewachsen ist sie nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrem Onkel und ihrer Tante, aber sie hat sich in dem prächtigen Haus und der "feinen Gesellschaft" nie wohl gefühlt. Eines Tages macht sie im Haus des Onkels eine Entdeckung, die sie vor eine schwerwiegende ethische Entscheidung stellt, was ist in diesem Fall das Richtige?
Das Schicksal von Arthur, Narin und Zalekhah hängen für immer zusammen.
Dieser Roman ist wunderschön geschrieben, sprachlich poetisch ausgefeilt, metaphorisch, einfühlsam und hat mich am Schluss zu Tränen gerührt. Der Umgang mit der Resource Wasser ist genauso Thema wie Mesopotamien, alte Schriften, Vertreibung, Hoffnung in dunklen Zeiten.
Die einzelnen Erzählstränge unterschiedlicher Zeiten und Gebiete, sind dabei fein miteinander verwoben, finden letztlich ein gemeinsames Ende und damit einen einen stimmigen Abschluss, der nachwirkt und zum Nachdenken anregt.
"Noch am dunkelsten Himmel flimmert hoch oben ein Stern, noch in tiefster Nacht brennt eine Kerze mit heller Flamme. Verzweifle nicht. Such immer nach der nächstgelegenen Lebensquelle. (...) Tränen laufen ihr über die Wangen. Wo soll sie Licht finden, wenn rings um sie Dunkelheit herrscht?" (Zitat S. 521)
Fazit:
Ein wundervoller, beeindruckender Roman, sehr fein formuliert mit zu Herzen gehenden Schicksalen sowie interessanten historischen Fakten - spannend, faszinierend und sehr berührend!
Für mich ein absolutes Highlight am Buchhimmel!