Für Ann Lesniak bricht eine Welt zusammen - ihr Vater soll der Schleifenmörder sein! Er, der immer für sie da war, der renommierte Philosophieprofessor und Anthropologe, der sanfteste Mensch, den sie kennt, ausgerechnet dieser Mann soll zehn Mädchen ermordet haben! Sie will unbedingt seine Unschuld beweisen, aber niemand will ihr helfen und ihr Vater schweigt.
Ich wurde sehr schnell warm mit den Figuren und der Geschichte. Die Perspektivwechsel sind gelungen und ergänzen einander sehr gut. Mal lauscht man Ann selbst, mal ist man Zaungast bei Verhören, mal Zeuge von Gesprächen des Mörders mit seinen Opfern (nein, es sind eher Monologe), aber besonders ergreifend sind die Definitionen von Gefühlen, die Ann in ihrer Kindheit geschrieben hat.
Die eine oder andere Entwicklung im Buch ist erstaunlichen Zufällen geschuldet. Diese sind nicht immer sehr realistisch, dennoch passt für mich alles recht gut zusammen. Selbst das schräge Verhalten der einen oder anderen Figur kann ich in Anbetracht der Taten in gewissem Maße verstehen (wenn auch nicht gutheißen oder gar rechtfertigen).
Stellenweise strengt sogar Ann ganz schön an. Doch im Verlauf der Story - spätestens aber am Ende - ergibt auch das einen Sinn und wird aufgeklärt. Überhaupt bekommt gegen Ende vieles, das völlig unsinnig oder unstimmig schien, einen Sinn. Die Wendungen und unerwarteten Entwicklungen erklären auch das manchmal seltsame Verhalten von Ann. Für mich war das Ende stimmig und ich musste meine eigenen Gefühle erst mal sortieren.
Romy Hausmann zeigt mit diesem Thriller, wie leicht man sich blenden lässt, wie oft man von sich selbst und den eigenen Gedanken und Gefühlen in die Irre geleitet wird, wie oft man gar nicht erst in Erwägung zieht, dass andere die Dinge anders sehen und erleben. Das hat mich extrem bewegt und dazu gebracht, über mein eigenes Denken und Verhalten nachzudenken. Auch ich hatte ein Bild von Ann - das zwar nicht völlig falsch, aber auch nicht wirklich richtig war. Ich habe ihr einen Stempel aufgedrückt, aber nicht darüber nachgedacht, warum sie so ist. Dafür schäme ich mich! Es ist faszinierend, dass selbst ein Thriller den Leser besser macht!
Schon mit "Liebes Kind" konnte mich die Autorin überraschen. Auch hier schafft sie das wieder. Es mag nicht der beste Thriller aller Zeiten sein, aber mir hat gefallen, wie ich falschen Fährten gefolgt bin, an anderen Stellen richtige Schlüsse zog und dennoch bis zum Schluss das Interesse nie verloren habe. Die Unterhaltung war durchgehend gegeben, nichts war langweilig und ich konnte mich komplett von der Geschichte treiben lassen. Das mag ich. Deshalb fünf Sterne.
Sandrine Mittelstädt gebührt ein gesondertes Lob. Ich habe ihr Ann komplett abgekauft. Sie hat sie authentisch gelesen und auch die Parts von männlichen Figuren nicht überspannt gesprochen. Sowohl Inhalt der Story als auch Emotionen hat sie wunderbar transportiert. Auch ihr ist viel von meinem Genuss zu verdanken!