Das blutrote Cover mit der Frau und den marmornen Spuren auf ihrer nackten Haut ist eindrucksvoll. Mir schwant Übles und das Cover kann durchaus als kleine Vorschau in eine Geschichte gewertet werden, die wirklich nichts für zarte Seelen ist. Jean-Christophe Grangé lässt seine Handlungen im Nazi-Deutschland im Jahr 1939 mitten in Berlin spielen. Das Grauen und die Schreckensherrschaft des NS-Regimes dominieren die Geschichte und verknüpft reales Zeitgeschehen mit einem fiktiven Fall. Das meistert Grangé so gekonnt, dass es mir oft schwerfällt, zwischen Fiktion und Wahrheit zu unterscheiden.
Dabei starten Die marmornen Träume beinahe ruhig, idyllisch. Ich lerne als erstes Simon Kraus kennen. Er ist Traumforscher und arbeitet als Psychoanalytiker. Seine Klientinnen sind ausschließlich weiblich und gehören der Nazi-Elite an. Schnell wird klar, weshalb Simon sich ausgerechnet auf diesen Kundenstamm fokussiert hat und dass seine Absichten weder edel noch rein sind. Charakterlich möchte ich Simon gernhaben, denn seine Abneigung gegenüber der braunen Macht ist spürbar. Andererseits ist er auch Nutznießer des Schreckensregimes, was er wiederum für sich ausblendet. So fällt es mir schwer, Simon vollendend zu mögen, wenngleich er mir von allen anderen Charakteren am angenehmsten ist.
Mitten in Simons beschauliches Leben platzt Franz Beewen, Hauptsturmführer bei der Gestapo. Grobschlächtig im Aussehen und seiner Art, gefährlich in seinem Handeln. Sein Hass ist sein Motor, Franz will kein Ermittler sein, sondern im Krieg gegen die verhassten Franzosen kämpfen. Franz ist mir sofort unsympathisch, sein ganzes bäuerisches Auftreten ist anstrengend, aber passend zu seiner Figur.
Ich erfahre, dass Franz unter dem Radar ermitteln soll, wer die schönen Frauen der Nazi-Elite gnadenlos abschlachtet. Sein Weg führt ihn unweigerlich zu Simon, denn diese Frauen sind dessen Klientinnen.
Unfreiwillig werden Simon und Franz zu einem Ermittlungsgespann, dass recht schnell Unterstützung durch die saufende und Drogen konsumierende aristokratische Minna von Hassel, Leiterin der Nervenheilanstalt Brangbo, bekommt. Das Gespann ist skurril, auf den ersten Blick trennt sie mehr, als sie verbindet. Doch das macht irgendwie ihre Stärke aus und fördert ihre eigenen Entwicklungen. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich beginne, die drei immer mehr ins Herz zu schließen, dabei sind sie alle keine wirklichen Sympathieträger. Sie sind Antihelden in einem Kampf um verzweifelte Gerechtigkeit in einem Land, wo es gar keine Unvoreingenommenheit und Fairness mehr gibt.
Besonders Franz, seine charakterliche Entwicklung finde ich unglaublich faszinierend. War er zu Beginn ein Tyrann, so entdeckt Franz sein Herz und mehr noch, er stellt sich selbst und seine Überzeugung infrage. Die Ereignisse zwingen ihn förmlich dazu. Und auch Simon und Minna müssen erkennen, dass sie sich in einer Illusion sichergefühlt haben.
Grangé lässt sich mit der Entwicklung der Geschichte Zeit. Er liebt es, ausschweifend zu erzählen, was die Spannung zwar drückt, gleichzeitig aber mein Interesse wachhält. Die marmornen Träume leben von Grangés Geschick, historische Details so perfekt mit seinen Charakteren zu verknüpfen, dass ich mich nicht des Gefühls erwehren kann, dass es genauso hätte gewesen sein können.
Ich lerne die drei Hauptfiguren intensiv mit allen ihren Facetten, Geheimnissen, Gedanken und Emotionen kennen. Gleichzeitig zeichnet Grangé das Aussehen Berlins um 1939 sowie die dort vorherrschende Atmosphäre kurz vor Kriegsbeginn so eindrucksvoll, dass die Geschichte förmlich lebt. Ich kann tief in die Zeit abtauchen und versinke gleichzeitig in einem braunen Morast, dessen Ideologie mich würgen lässt.
Grangé scheut sich nicht, seinen Schreibstil auf die handelnden Personen anzupassen, auf denen gerade der Fokus des personalen Erzählers ruht. So erhalten die Charaktere noch mehr Tiefgang und die Perspektivwechsel fühlen sich natürlich an. Das ist sehr nützlich, da die Kapitel lediglich nummeriert sind. Die marmornen Träume sind in fünf große betitelte Abschnitte untergliedert, sodass klar wird, was der jeweilige zentrale Erzählpunkt ist.
Recht schnell wird deutlich, wie das Buch zu seinem Titel kam und ich mag das sehr. Die Verbindung zwischen dem Täter, dem Marmormann und den Träumen bleibt lange im Dunklen, was mich zum Miträtseln einlädt.
Die marmornen Träume leben vom historischen Setting und der politischen Lage jener Zeit. Der Kriminalfall wird so ausgeklügelt in das Zeitgeschehen eingebettet, dass sich die Entwicklungen, die stets unvorhergesehene Wendungen in petto haben, überzeugend und schlüssig präsentieren. Die Auflösung habe ich überhaupt nicht kommen sehen. Sie hat mich abgestoßen und fasziniert zugleich. Und gerade als ich denke, dass es mehr nicht zu erzählen gibt, zieht Grangé noch ein Ass aus dem Ärmel. Völlig unerwartet kommt ein Plot Twist, der leider ein bisschen zu dick aufgetragen ist, um glaubwürdig zu sein. Aber das schmälert den Thriller nur geringfügig, denn der Schrecken dieses Buches wird noch lange in mir nachhallen.
Fazit:
Ein sehr vielschichtiger Thriller, dessen gewählter Schauplatz mitten in Berlin der 1939er-Jahre schon allein für Grauen sorgt. Die marmornen Träume sind eine Mahnung, dass das Böse viele Facetten hat und nicht alles so ist, wie es vordergründig den Anschein hat.