Eva Björg Ægisdóttir ist eine vielversprechende Stimme im Genre der nordischen Kriminalliteratur. Die 1988 in Akranes geborene Autorin lässt ihre Krimis in ihrer Heimatstadt spielen und schafft es, die rauen Landschaften Islands meisterhaft in ihre Geschichten zu integrieren. Für ihr Debüt wurde sie mit dem renommierten Blackbird-Award ausgezeichnet. Mit Verlassen, dem vierten Band ihrer Reihe Mörderisches Island, liefert sie einen atmosphärisch dichten Krimi, der sich unabhängig von den anderen Bänden lesen lässt.
Worum gehts genau?
Eine wohlhabende isländische Familie, der Snæberg-Clan, trifft sich in einem abgelegenen Hotel in den Lavafeldern Westislands, um den 100. Geburtstag eines verstorbenen Familienmitglieds zu feiern eine ungewöhnliche und fast skurrile Idee für ein Fest. Die Stimmung kippt, als ein Schneesturm aufzieht, der Alkohol in Strömen fließt und ein Familienmitglied plötzlich verschwindet. Bald wird klar, dass jeder und jede etwas zu verbergen hat, und die Hotelangestellten, insbesondere Irma, geraten ebenfalls in einen Strudel aus Misstrauen und Verdächtigungen. Währenddessen kämpfen die Ermittler damit, die dunklen Geheimnisse und tiefen Risse innerhalb der Familie zu entwirren bis die schockierende Wahrheit ans Licht kommt.
Meine Meinung
Ich habe mir Verlassen als Einstimmung auf meinen bevorstehenden Island-Urlaub gekauft, und ich wurde nicht enttäuscht. Die Geschichte ist clever aufgebaut und entfaltet sich auf zwei Zeitebenen: Vor dem Verschwinden und danach. Die Kapitel, die die Ermittlungen schildern, sind dabei kürzer, aber durch die präzisen Zeit- und Datumsangaben bleibt die Orientierung leicht, was mir sehr gefallen hat. Besonders hilfreich war auch der Stammbaum am Anfang des Buches, da die vielen Figuren mit ihren komplizierten Beziehungen manchmal etwas verwirrend waren. Ich war auch froh, dass man keinerlei Vorwissen braucht, weil ich die anderen Bände der Reihe nicht gelesen hab.
Ein großes Plus des Buches ist, dass die Geschichte aus vielen unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Anfangs fand ich das zwar irritierend, aber mit der Zeit habe ich diesen Ansatz wirklich geschätzt. Es ermöglicht einen intensiven Einblick in die Gedankenwelt der einzelnen Figuren und macht die Geschichte lebendig und vielseitig. Themen wie Familientragödien, Cyber-Grooming, Drogenmissbrauch, sexuelle Gewalt, Hate Speech und die verheerenden Folgen von Familiengeheimnissen werden geschickt miteinander verwoben. Besonders deutlich wird, dass Reichtum nicht automatisch Glück bedeutet bei den Snæbergs liegen Fassade und Realität meilenweit auseinander.
Was mir jedoch weniger gefallen hat, ist die sehr passive Rolle der Polizei. Die Ermittler bleiben blass und fast unsichtbar, sodass der Krimi oft mehr wie ein Familiendrama wirkt. Außerdem fand ich es unrealistisch, dass fast alle Charaktere ernsthafte Alkoholprobleme haben. Klar, das sorgt für Spannungen, aber irgendwann wirkte es auf mich übertrieben.
Das Ende hat mich leider enttäuscht. Einige spannende Handlungsstränge und Charaktere, die im Laufe des Buches eingeführt wurden, bleiben ungelöst, was eine Lücke hinterlässt. Gerade weil der Rest der Geschichte so gut aufgebaut war, hätte ich mir ein rundes Finale gewünscht.
Dafür konnte mich die atmosphärische Beschreibung der isländischen Landschaften absolut begeistern. Die karge, eisige Natur wurde so detailreich beschrieben, dass ich mich fast selbst in den Lavafeldern wiedergefunden habe. Das wunderschön gestaltete Buchcover mit seinen nordischen Farben und die grafischen Elemente im Inneren, wie die Karte Islands, tragen zusätzlich zur gelungenen Einstimmung auf die Geschichte bei.
Fazit
Verlassen ist ein spannender Krimi, der durch seine cleveren falschen Fährten und die geschickte Erzählweise punktet. Die verschiedenen Perspektiven und tiefgründigen Themen machen das Buch zu einem echten Pageturner. Leider wird das Gesamterlebnis durch ein enttäuschendes Ende und die schwache Präsenz der Ermittler etwas getrübt. Wer jedoch Lust auf ein atmosphärisches Familiendrama mit Krimi-Elementen und faszinierenden Einblicken in die isländische Landschaft hat, wird hier nicht enttäuscht. Ich vergebe solide 4 von 5 Sternen.