Mit "Dunkle Momente" wirft Elisa Hoven einen fesselnden Blick auf die feinen Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit. In neun realitätsnahen Fällen zeigt sie, wie schnell ein Mensch durch eine einzige folgenschwere Entscheidung vom unbescholtenen Individuum zur Täter:in oder zum Opfer werden kann. Als Strafrechtsprofessorin und Richterin am Sächsischen Verfassungsgericht bringt Hoven umfassendes Fachwissen mit, das sie in eine packende Erzählweise übersetzt.
Worum gehts genau?
Im Zentrum der Erzählung steht die Strafverteidigerin Eva Herbergen, die mit großem Engagement für ihre Mandant:innen kämpft. Sie verteidigt Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten von der berühmten Schriftstellerin über den vermögenden Unternehmer bis zur Stiefmutter. Doch alle ihre Fälle haben eines gemeinsam: Es gibt diesen einen dunklen Moment, der das Leben der Beteiligten für immer verändert.
Während Eva ihre Geschichten erzählt, stellt sie sich und uns als Lesende immer wieder dieselbe Frage: Ist Recht immer gerecht? Und was bedeutet es für unser moralisches Verständnis, wenn juristische Urteile nicht mit unserem Gerechtigkeitsempfinden übereinstimmen? Mit jeder neuen Geschichte gerät sie selbst stärker ins Wanken, bis sie sich fragen muss, welche Konsequenzen sie aus diesen Erkenntnissen ziehen sollte.
Meine Meinung
Ich habe "Dunkle Momente" als Hörbuch gehört, gelesen von Nina Kunzendorf. Anfangs war ich nicht sofort begeistert von ihrer Stimme, doch mit der Zeit merkte ich, dass sie hervorragend zur düsteren und nachdenklichen Atmosphäre des Buches passt. Schon der erste Fall zog mich in seinen Bann und dieses Gefühl hielt bis zum Schluss an.
Als begeisterte True-Crime-Podcast-Hörer:in insbesondere des Podcasts "Mordlust" fand ich es faszinierend, wie gut das Buch juristische Zusammenhänge verständlich aufbereitet. Hoven zeigt auf eindrucksvolle Weise, welche Grenzen unser Rechtssystem hat und warum "rechtmäßig" nicht immer gleichbedeutend mit "gerecht" ist.
Die neun Fälle sind thematisch und inhaltlich sehr unterschiedlich, aber alle hochspannend. Besonders gelungen finde ich, dass sich die Geschichten nicht einfach auf eine Täter:innen-Opfer-Dynamik reduzieren lassen. In vielen Fällen scheint die Schuldfrage anfangs klar, doch dann nimmt die Geschichte eine unvorhersehbare Wendung. Als Lesende wurde ich immer wieder herausgefordert, meine eigenen moralischen Urteile zu hinterfragen. Gerade wenn man glaubt, man hätte das Muster des Buches durchschaut, kommt eine neue Geschichte, die wieder alles infrage stellt.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Entscheidung, alle Geschichten durch die Ich-Erzählerin Eva Herbergen zu verknüpfen. Dadurch wirken die Fälle nicht wie isolierte Berichte, sondern bekommen eine emotionale Tiefe. Eva ist keine distanzierte Beobachterin, sondern eine leidenschaftliche Verteidigerin, die mit den moralischen Ambivalenzen ihres Berufs kämpft. Sie hinterfragt sich selbst, ihre Mandant:innen und das Rechtssystem und zwingt auch uns Lesende dazu, genau das zu tun.
Man merkt deutlich, dass die Autorin als Strafrechtsprofessorin tief in der Materie steckt. Ihre Fälle sind fiktiv, aber oft von realen Verbrechen inspiriert so zum Beispiel vom "Fall des Kannibalen von Rotenburg". Dieses Detail hat mich besonders beeindruckt, weil es zeigt, wie nah Fiktion und Realität manchmal beieinanderliegen.
Der Schreibstil ist klar und leicht verständlich. Besonders als Hörbuch kommt diese Klarheit gut zur Geltung, da ich mich ganz auf die Handlung konzentrieren konnte. Ich habe das Buch regelrecht verschlungen und jede freie Minute weitergehört. Auch wenn die Geschichten nicht blutig oder effekthascherisch erzählt sind, geht einem die Thematik oft nahe. Die Erzählungen sind manchmal schwer zu verdauen, weil sie existenzielle Fragen aufwerfen: Kann ein einzelner Fehltritt eine Person für immer definieren? Wie unterscheiden wir zwischen "gut" und "böse", wenn selbst die schlimmsten Taten aus verzweifelten Situationen heraus entstehen können?
Besonders stark sind die Fälle, bei denen man als Leser:in fast wütend wird, weil die juristischen Entscheidungen nicht mit dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden übereinstimmen. Manche Geschichten haben mich fassungslos gemacht, bei anderen war ich sprachlos vor Erstaunen.
Was das Cover betrifft, hat es mich zunächst nicht angesprochen es wirkt sehr schlicht. Aber nach der Lektüre sehe ich es in einem anderen Licht: Es steht sinnbildlich für einen der erzählten Fälle und passt zur schlichten, aber eindringlichen Erzählweise des Buches.
Fazit
Dunkle Momente ist ein intelligenter, spannender und tiefgründiger Roman, der zeigt, dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer dasselbe sind. Elisa Hoven gelingt es, juristische Themen so spannend und zugänglich zu vermitteln, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann. Wer True-Crime-Geschichten mag, aber auch Wert auf tiefgehende moralische Fragestellungen legt, wird hier voll auf die eigenen Kosten kommen. Ein Buch, das nicht nur unterhält, sondern auch lange nachwirkt.
5 von 5 Sternen